Hans-Georg Möller "In der Mitte des Kreises" Insel Taschenbuch 2001

 

"Dass der direkte Adressat des Daodejing der jeweilige Herrscher war, zeigt auch der Gebrauch des Wortes 'ich'. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass das 'ich', wenn von ihm die Rede ist, nicht das 'ich' eines belehrenden Weisen oder eines Autors ist, sondern das des Herrschers als Leser oder Hörer, der sich mit diesem 'ich' identifizieren soll. Es erinnert entfernt an das 'ich' in früher einmal benutzten Fibeln, die man Kindern aus Erziehungsgründen zu lesen gab, und wo sich dann Sätze fanden wie:"Ich putze mir regelmäßig meine Zähne."

 

Der "Diskurs" des Dao stellte das Vokabular und die Sprache bereit, in der sich die Gebildetsten und Mächtigsten über ihr Verhalten verständigten und mit der sie es begründeten. Im alten China war das Dao nicht nur für die daoistische Schule, sondern auch für alle anderen Denkrichtungen ein Leitbegriff, an dem sich die Experten orientieren mussten, wenn sie an den intellektuellen Auseinandersetzungen teilnehmen wollten.

 

Das Rad läuft, es ist ein Ablauf, ein Prozess. Ist das Dao wie ein Rad, so ist es, anders als etwa ein Fels ( der ja bekanntlich ein nicht unwesentliches Symbol des Christentums ist), weniger Grund oder Prinzip, für alles, was sich auf dessen Boden ereignet, und mehr Mechanik, Struktur oder Ordnung eines Geschehens. 

Das Bild des Rades macht deutlich, dass das daoistische Dao weder eine Gottheit ist noch eine höhere Idee im Platonischen Sinne, es ist nicht im christlichen Sinne Urgrund oder Schöpfer, nicht logisches oder natürliches Gesetz, nicht 'unbewegter Beweger' .

Von solchen Dingen, mit denen es vor allem westliche Interpreten gerne verwechselt haben, unterscheidet es sich vor allem dadurch, dass es mehr ein Muster oder eine Anleitung ist als eine Ursache. Mit dem Dao als Rad zeigen die Daoisten nicht, worauf etwas fußt, sondern demonstrieren vielmehr wie etwas läuft.

 

Der altchinesische Ausdruck Ziran, was wörtlich soviel heißt wie "von selbst so sein", benennt den in diesem Sinne natürlichen Zustand eines Dinges, eines Sachverhaltes oder einer Handlung. Das Dao hat nur das ziran, das "von selbst so sein" zum Gesetz. Seine Mechanik ist ganz und gar "natürlich", weil sie nicht "transzendent" in einer höheren Instanz verankert ist, kein irgendwie Anderes noch "dual" neben sich hat und als geschlossener Organismus sich selbst erschafft und erhält.

 

Daoisten interessiert weniger wie etwas aussieht, sondern mehr wie man es herstellt. Es interessiert sie, wie etwas "zuwege gebracht" wird. Gerade auf diese Weise wird die Kunst im Daoismus vom Handwerk her konzipiert.

Das Kunstwerk wird nicht zuerst als Abbild von etwas anderem verstanden, so wie man etwa in der europäischen traditionellen Kunst ein Ideal möglichst täuschend echter Wiedergabe einer Realität außerhalb des Bildes kennt.

So gesehen wird verständlich, warum Schönheit kein Ziel der daoistischen Ästhetik sein kann. Schönheit ist etwas, das die Wirklichkeit "überhöht", ein transzendentes, "über-wirkliches" , göttliches Ideal. Die daoistische Welt aber ist immanent. Über die Welt oder über die Wirklichkeit hinauszugehen hieße gerade, die Welt oder die Wirklichkeit zu verfehlen. Und es geht den Daoisten darum, in der Wirklichkeit aufzugehen. Daoistische Kunst ist "echt", ohne auch noch schön sein zu wollen.

 

Der Daoist akzeptiert das Wechselgeschehen, das durch bestimmte Benennungen und dazugehörige Gedanken gekennzeichnet ist, er lässt es geschehen, aber er nimmt an diesem "Sprachspiel" nicht aktiv teil. Aus der namenlosen Mitte heraus gesehen, dreht sich das Rad der Sprache, die Debattiererei um Ursachen und Folgen wie ein perpetuum mobile. Aus der Nullperspektive betrachtet, gibt es keinen Grund dafür, das eine als primär und das andere demgegenüber als sekundär, das eine als "wahr" und das andere demgegenüber als"falsch" anzusehen. 

Jede Position in der Dingwelt hat ihr Gegenüber, und doch haben alle an ihrem Platz "recht".

Deshalb reden die Daoisten nicht gern. In gewisser Weise schweigen sie noch nicht einmal, insofern man Schweigen ebenfalls mit einer bestimmten Position gleichsetzt, die eine andere Position des Redens negiert.

 

Anders als etwa in der christlichen Vorstellung, in der Gott schon vor der Welt existiert und diese "schafft", geht der Daoismus nicht davon aus, dass das Dao vor der Welt als deren Ursprung existiert und diese dann sozusagen allein lassen könnte. Das Dao existiert nur in und mit der Welt der zehntausend Dinge. Das "Dao des Himmels" ist der Struktur nach nicht als Schöpfungszusammenhang konstruiert.

Das Dao selbst ist in seiner Vollendung die vollendete Nicht-Präsenz.

Und gerade weil es die höchste Nicht-Präsenz ist, kann es nicht vor anderen Dingen sein, sonst wäre es eben selbst nur eine Art Ding im Raum und Zeit und gehörte statt in die Einheit in die Zweiheit und Vielheit hinein.

 

Während für die Daoisten die Wirklichkeit des Wirklichen durch die Leere, durch die Nicht-Präsenz, nicht gebrochen oder methodisch negiert wird, während es bei den Daoisten auf die ungebrochene Anerkennung der Echtheit all dessen, was ist, ankommt, herrscht bei den Chan-Buddhisten ein tatsächlich "relativiertes" Wirklichkeitsverständnis vor, in dem die Wirklichkeit von der Nicht-Wirklichkeit durchtränkt ist und mit dieser in ein "dialektisches" Spannungsverhältnis gesetzt ist.

 

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Viktor Kalinke "Nichtstun als Handlungsmaxime" Studien zu Laozi Bd.3 Leipzigerliteraturverlag 2011 

 

 

"Selbstverständlich enthält das Daodejing keine Antworten auf unsere Fragen. Ihm wohnt jedoch die Fähigkeit inne, uns anzuregen, daß wir selbst Antworten geben.

Diese Fähigkeit hat das Daodejing seine ganze Rezeptionsgeschichte hinweg bewahrt: Jede Generation hat es neu für sich ausgelegt und es als Projektionsspiegel für die eigenen Sorgen, Wünsche und Hoffnungen genutzt.

Der eigentliche Dreh des Daodejing besteht darin, sich innerhalb des feinen Gewebes an Intuitionen, Beschreibungen, Anklagen und Empfehlungen nicht festzulegen. Es entsteht ein schwebendes Gefühl beim Hörer oder Leser, er ist genötigt, die Festlegung selbst zu treffen."

 

"Vordergründig gesehen, löst das Daodejing zwei Kategorien, das Paradoxe und das Selbstverständliche, ineinander auf, so daß der Eindruck des Mystischen nicht verwundert. Stilistisch dargeboten in kunstvoll variiertem Allgemeinheitsgrad, der munter zwischen abstrakten Begriffen und auf der Hand liegenden Beispielen wechselt, kann das Daodejing je nach Augenmerk als spirituelle, naturphilosophische, politische oder gar poetische Schrift eingeordnet werden. Die inspirierende Wirkung des Daodejing liegt in seiner Offenheit für Deutungen, denn es grenzt nicht definitorisch ein, was der Gegenstand seiner Betrachtung ist."

 

"Die Verachtung, mit der sich das Daodejing gegenüber dem Wissenserwerb ausspricht, meint nicht das gesamte Wissen schlechthin, sondern eine bestimmte Art des gelehrten Wissens. Dagegen empfiehlt sich wegen der begrifflichen Unfassbarkeit des Dao eine andere Qualität des Wissens, die lediglich in der Kenntnis von Metaphern für das Unsagbare sowie in der (Trance-) Wahrnehmung feinster Feinheiten besteht. Damit wird das im Buddhismus so wichtige Thema der Achtsamkeit bereits im Daodejing zu einem zentralen Ausgangspunkt erhoben."

 

"Gegenüber dem kosmologischen Entwurf des Daodejing erweist sich der Humanismus als weniger universell, denn er bezieht die Natur nur ungenügend ein bzw. behauptet einen Vorrang des Menschen gegenüber der Natur. Im Daodejing wird die Situation umfassender gesehen, der Mensch erscheint nur als Teil der Natur.

Indem das Daodejing sich dafür ausspricht, niemanden zu vernachlässigen, sondern jedes Mitglied der Gemeinschaft auf den Entwicklungsweg mitzunehmen, schafft es einen ethischen Minimalanspruch: Jeder möge dem Dao in sich folgen und es auf seine Weise mit dem Dao des Himmels , sprich der Natur, in Einklang bringen.

Wesentlich erscheint mir, daß das Daodejing eine Hierarchie der Werte einführt, in der nicht der Mensch an oberster Stelle steht, sondern die Natur."

 

"Wer das Dao als umfassend und durchdringend betrachtet, der fragt nicht nur nach dem Nutzen für den Einzelnen, sondern nach dem Nutzen für das Ganze. Der Blick aufs Ganze verknüpft die Frage der Nützlichkeit immer mit der Frage der Nachhaltigkeit. Aus dem Systemdenken resultiert im Daodejing unmittelbar die Betrachtung der zeitlichen, evolutionären Perspektive."

 

"Die einzige Vorhersage, die das Daodejing trifft, lautet: Der Versuch, das Unvorhersehbare zu beherrschen, muß scheitern. Jegliches auf Totalität angelegte menschliche Handeln geht von der Missachtung der grundlegenden Höherrangigkeit der Natur aus."

 

 

"In China fehlt die Vorstellung vom Schöpfergott. Der Grund liegt darin, daß die Chinesen sehr früh - lange vor dem Aufkommen des Daoismus-

im Dao ein Symbol für die immanenten Abläufe in der Natur gefunden hatten, das sie - so glaubten und glauben sie bis heute - auf die Vorgänge in der menschlichen Gesellschaft übertragen können. Immanent und Transzendenz - diese beiden Pole charakterisieren den Unterschied zwischen chinesischen und indoeuropäischen Denkmustern am treffendsten. Für die Indoeuropäer gibt es außerhalb der sinnlich wahrnehmbaren Welt eine höhere Wirklichkeit, die sie nicht genau kennen können, aber auf die sie sich ständig berufen, um ihr Handeln zu legitimieren. Für die Chinesen gibt es nur eine Welt, innerhalb derer sich alles entwickelt. Ihr wohnt das Dao inne, das Anzeichen über den potentiellen Entwicklungsverlauf verrät. Es handelt sich um zwei gegenläufige Geistesbewegungen: Während die Indoeuropäer ihre subjektiven Launen und Ideen in die höhere Wirklichkeit der Götterwelt hineinspielen, holen die Chinesen die Einsicht in die natürlichen Entwicklungswege vom Himmel herunter, um sie auf der Erde anzuwenden."

 

"Das Dao ist in jedem Moment im Prozeß des Werdens einer Situation oder Angelegenheit implizit verborgen. Der Weise verlässt sich nicht auf Prinzipien und Gesetze, sondern nimmt in jedem Moment neu wahr, beobachtet, prüft, was ihm an der Situation nützt oder schadet. Der ethische Diskurs, wie wir ihn aus der europäischen Philosophie kennen, wird damit überflüssig. Kant radikalisierte die christliche Ethik, indem er sie säkularisierte und den kategorischen Imperativ aus rein logischen Gründen und ohne Bezug zur Mythologie zum Maßstab der Ethik erhob. Damit übernahm in der Ethik die Prinzipienreiterei die Herrschaft. Denn der kategorische Imperativ - wie alle Werte, Haltungen, Grundsätze usw. die sich aus ihm ableiten lassen - besteht unabhängig von jeglicher Situation. Als Opportunist wird derjenige angesehen, der sein Handeln auf die Situation abstimmt, als ethisch verantwortungsbewußter Mensch, als Held, gilt, wer seine Prinzipien standhaft verteidigt, koste es was es wolle.

Für das Daodejing ist der Mensch einerseits weder gut noch böse, denn er ist - wie alles in der Natur - vom Dao durchdrungen, und das Dao ist als das ursprüngliche Eine wertneutral."

 

"Der Daoist möchte möglichst ohne Anstrengung und Mühe ans Ziel kommen, er will den Lauf der Dinge für sich arbeiten lassen, statt sich zu verausgaben, indem er gegen die natürliche Entwicklung ankämpft.

Faulheit könnte man sagen, oder auch: Minimalismus - das verbirgt sich hinter dem berühmten Handeln durch Nichthandeln. Es bedeutet nicht, nichts zu tun."

 

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 „Der Weg und die Kraft - Tao-te-king“  von R.L.Wing   ( Bechtermünz Verlag )

 

Das alte Chinesisch kennt kein Aktiv oder Passiv, keinen Singular oder Plural. Beinahe jedes Wort kann in der jeweiligen Aussage sämtliche grammatischen Funktionen übernehmen. Chinesischen Schriftzeichen sind weniger Repräsentanten von Wörtern als Symbole für Ideen. Nicht mit Worten teilt uns Laotse mit, was er denkt, sondern er zeigt es uns in Symbolen. Deshalb wendet sich das eigentliche Werk unmittelbar an die geistige Intuition des Lesers

Die Grundintention des Tao te King besteht darin, im Bewusstsein des Lesers wie ein Katalysator zu wirken und Einsichten in das Wesen der Realität freizusetzen, was für den Leser wiederum bedeutet, dass er an der Sinnkonstituierung des Werkes produktiv teilnehmen muss.

Laotse hatte nicht die Absicht, ein abgeschlossenes, endgültiges, eindeutiges Werk zu schaffen, das über den historischen Wandel erhaben wäre; es hätte sich dann nicht wie das tao selbst verhalten.

Laotse war überzeugt, dass intuitives Wissen die reinste Form von Information ist. Aus diesem Grund drückte er seine Philosophie in Form von Gedankenexperimenten aus - geistigen Übungen, ersonnen zur Steigerung und Fortbildung der intuitiven Fähigkeiten. Er regt uns an unser kognitives Erfassen der Umwelt mit einer kraftvollen persönlichen Vision zu verbinden. Neurologisch gesehen könnten wir dies einen ‚ganzheitlichen‘ Verstehensansatz nennen, bei dem die räumlich und ästhetisch kompetente rechte Gehirnhälfte gleichzeitig mit der analytisch und logisch orientierten linken zur Anwendung kommt.

Viele der klassischen Werke chinesischer Philosophie sind in einem Stil verfasst, für den es in der westlichen Literatur kein Pendant gibt. Der Großteil westlicher Philosophie scheint auf den Funktionen der analytischen linken Gehirnhälfte aufzubauen: Eine Hypothese wird über eine Anzahl Kapitel hinweg logisch entwickelt, bis man, am Ende des Buches, zu einer Schlußfolgerung gelangt ist. Chinesischen Philosophie hingegen ist eher mit den Funktionen der räumlich orientierten rechten Gehirnhälfte verbunden. Diese Werke sind gewissermassen holographisch, dreidimensional.

Östliche Gelehrte studieren einen philosophischen Klassiker, indem sie nach einer subjektiven Erfahrung Ausschau halten, die ihr intuitives Verständnis des Werkes stimulieren könnte.  

 

 

 

„Lao-tzu und der Taoismus“  ( edition Suhrkamp )

 

Neben Konfuzius ist Lao-Tzu wahrscheinlich die berühmteste Gestalt des chinesischen Altertums und eine, deren Namen dem westlichen Publikum wohl bekannt ist.

( kleine Anmerkung dazu: Wie wenig die Philosophie des tao bisher in unserer Kultur allerdings wirklich wahrgenommen wird, zeigt sich u.a. auch dadurch, dass mein Schreibprogramm aus Taoismus immer wieder Maoismus macht! ) Das Buch, das seinen Namen trägt, wird auch Tao-te-ching genannt. Es ist das mit Abstand meist übersetzte Buch der fernöstlichen Literatur. Und wenn auch solche Übersetzungen gar häufig nur die mehr oder weniger erfindungsreichen Auslegungen eines schwierigen Textes darstellen, so haben sie doch der Popularität des Lao-Tzu keinen Abbruch getan. Denn was weiß man wirklich über diesen Philosophen? Wenig genug! So wenig, dass die Fachleute - seien es nun Chinesen, Japaner oder Gelehrte aus dem Westen - bereits über die Frage seiner historischen Existenz zerstritten sind: Die einen vertreten die Ansicht, dass er nur eine legendäre Gestalt sei; andere räumen zwar seine Existenz ein, vertreten aber sehr unterschiedliche Ansichten hinsichtlich seiner Lebenszeit und hinsichtlich bestimmter Ereignisse seines Lebens.

 

So erscheint das Tao-te-ching letztendlich als eine Sammlung von Aussprüchen, von denen die einen im Volke kursierende Weisheitssprüche, andere hingegen das Gedankengut verschiedener proto-taoistischer Schulen wiedergeben. Diese Sammlung ist allmählich entstanden, und erst im 3. Jahrhundert v. Chr. hat sie ihre annähernd endgültige Form erhalten. Zuvor muss es von ihr untereinander sehr verschiedene Fassungen gegeben haben, woraus sich die außerordentlich zahlreichen Varianten erklären, denen man sowohl in den verschiedenen Fassungen des heutigen Texts, als auch in den Zitaten der alten Texte begegnet.

 

Die eigentliche Bedeutung des Wortes tao ist „Weg“, „Pfad“. Verbal gebraucht, bedeutet das gleiche Wort „einen Weg bahnen“ , „führen“, „eine Verbindung herstellen“. Derjenige, welcher seinem Nächsten einen Weg weist, belehrt ihn durch das Wort. So hat tao auch die Bedeutung „sagen“, die eines „Wortes“, das unterrichtet und belehrt, endlich den einer Lehre.

Aber das Wort tao ist auch zuvorderst ein religiöser oder magischer Begriff. Er bezeichnet die Kunst, eine Beziehung zwischen Himmel und Erde oder zwischen den sakralen Mächten und den Menschen herzustellen. 

 

Der „spontane“ und beständige Name, den das tao natürlicherweise und wesentlich besitzt, „ist vergleichbar dem Neugeborenen, der noch nicht spricht, dem Ei, dessen Inhalt noch nicht geschlüpft ist,der Perle, die noch in der Auster ruht, dem Jadestück, das noch in das Gestein eingeschlossen ist: Obwohl im Innern bereits strahlende Helligkeit herrscht, ist ihr Äußeres ohne Glanz.“ Damit soll gesagt werden, dass jener, der mit dem wahren tao vereint ist, ein inneres Licht besitzt, dass er sorgfältig verbirgt. Hingegen besitzt er eine  Kraft, die aus einer beständigen Vereinigung mit dem höchsten Prinzip rührt.

 

Lao-Tse macht deutlich, dass in seinem Buch nicht über die höchste Wirklichkeit gesprochen werden kann, sondern lediglich über die Geheimnisse, die Offenbarungen, die die sichtbare und unsichtbare Welt betreffen. Allerdings tauchen diese Geheimnisse, diese Offenbarungen aus der Tiefe des nicht zu Erkennenden auf. Das Absolute offenbart sich in vielfältiger und abgestufter Weise der Intuition des Menschen. Dieser gewinnt so eine mehr oder minder tiefdringende Erkenntnis der Wirklichkeit, je nach dem von ihm erreichten Grad der Weisheit. Das tao-te-ching verheisst ihm nicht, dass er das Ende dieses Weges erreichen wird, aber es fördert seinen Fortschritt, indem es ihn mit oft paradoxen oder rätselhaften Formulierungen zur Meditation anregt. Denn das Buch ist keineswegs ein philosophisches Traktat. Vergeblich wir man in ihm irgend eine Art der Beweisführung suchen. Es liefert nur Ergebnisse, nicht den Weg zu ihnen - den ein jeder auf seine Weise finden muss.

 

 

 

„Der Lauf des Wassers“ von Alan Watts  (Knaur Verlag)

 

In den letzten fünfzig Jahren sind chinesische, japanische und europäische Gelehrte durch eingehende Textkritik mehr oder weniger zur gemeinsamen Überzeugung gelangt, dass das Buch von Lao-tzu, das Tao Te Ching, eine Zusammenstellung taoistischer Sprichwörter von mehreren Verfassern sei und aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. stamme.

 

So wie die chinesische Schrift wenigstens um einen Schritt der Natur näher steht als die unsrige, so besteht die uralte Philosophie des tao darin, dem Lauf, der Strömung, dem „Strich“ der Naturphänomene geschickt und intelligent zu folgen und das menschliche Leben als einen integralen Bestandteil des ganzen Weltprozesses zu sehen, nicht als etwas Fremdes, ihm Entgegengesetztes.

 

Wenn das tao einfach unvorstellbar ist, wozu haben wir das Wort, und warum soll man dann überhaupt etwas darüber sagen? Einfach deshalb, weil wir intuitiv wissen, dass es eine Dimension in uns selbst und in der Natur gibt, die sich uns entzieht, weil sie zu nah, zu allgemein und zu allumfassend ist, um als besonderer Gegenstand herausgehoben zu werden. Diese Dimension ist der Grund aller erstaunlichen Formen und Erfahrungen, die wir wahrnehmen. Weil wir wahrnehmen können, kann sie nicht unbewusst sein, obgleich wir ihrer nicht bewusst sind als eines äußerlichen Gegenstands. So können wir es zwar benennen, aber keine bestimmte Aussage darüber machen. Die einzige Art und Weise, es wahrzunehmen, ist die Beobachtung der Vorgänge und Strukturen in der Natur und die meditative Disziplin, die unseren Geist still werden lässt und ihn so zum lebendigen Innewerden dessen führt, „was ist“, ohne Kommentar durch Worte.

 

Die die das tao verstehen machen es gern wie die Katzen: Sie sitzen einfach da und gucken, ohne an ein Ziel oder ein Resultat zu denken. Aber wenn eine Katze das Sitzen satt hat, steht sie auf und geht spazieren oder jagt Mäuse. Sie bestraft sich nicht, noch konkurriert sie mit anderen Katzen. Kontemplative Taoisten werden gerne mit Yogis und Zen-Anhängern sitzen, solange sie es vernünftig und angenehm finden, aber wenn die Natur es ihnen sagt, stehen sie auf und machen etwas anderes oder gehen schlafen. Taoisten betrachten die Meditation nicht als „Übung“ ausser in dem Sinn, wie ein Arzt die Medizin „ausübt“. Es liegt ihnen fern, das Universum durch Gewalt oder Willenskraft unterwerfen oder verändern zu wollen, denn ihre Kunst besteht einzig und allein darin, auf eine intelligente Weise dem Fluß der Dinge zu folgen. Meditation entwickelt diese Intelligenz als ein Nebenprodukt, sie ist nicht ihr direktes Ziel.

 

Der Taoismus ist durchaus keine Philosophie, die einen zwingt, unter allen Umständen gelassen und würdevoll zu sein. Die echte und erstaunliche Gelassenheit von Menschen wie Lao-tzu kommt daher, dass sie bereit und willens sind, ohne Scham unter allen Umständen das Natürliche zu tun.

 

 

 

„Innere Geborgenheit durch Tao Te King“  von Hubert Braunsperger  ( Edition S - Österreich )

 

Die Sprüche des Tao Te King sind verhältnismäßig spät in das Geistesleben Europas getreten: Die erste vollständige Übersetzung erschein 1842 im Französischen und die erste deutsche erst 1870. Dafür hat diese Art Weisheit sofort ungewöhnliches Interesse gefunden, was an der Vielzahl der bisher erschienenen Übertragungen abzulesen ist. Bis heute ist dieses Interesse nicht abgerissen, sondern befindet sich gerade in jüngster Zeit zunehmend im Wachsen.

Nach der Legende schrieb Laotse diese 81 Sprüche auf Wunsch eines interessierten Zöllners nieder, als er das Land verlassen wollte - also nicht einmal aus eigenem Antrieb - und ist dann verschwunden, ohne wieder gesehen zu werden. Diese Legende will zum Ausdruck bringen, dass Laotse nicht für sein Denken geworben, keine Schule gebildet und keine Anhänger um sich gescharrt hat.

Der Verbreitung der Sprüche des Laotse steht allerdings entgegen, dass sie eine reichlich schwierige Lektüre darstellen, sogar für den Chinesen selbst, erst recht aber für den Abendländer, der in einer völlig anderen Denkweise aufgewachsen ist. Der westliche Mensch ist von der Wissenschaft her eine logisch durchdachte Vorgangsweise gewohnt, für die meditatives Erfassen von Wesenheiten oder gar das Eingehen auf Paradoxien keinen Platz hat.

So wie die chinesische Kultur überhaupt, kennt Laotse nur einander ergänzende Gegensätze, die zusammen eine Einheit bilden, nicht aber einen grundsätzlichen Dualismus, etwas zwischen Geist und Materie oder Gut und Böse. 

Wenn auch dieses Denken der bisherigen Denkweise des westlichen Menschen entgegengesetzt war, so hat sich dies seit kurzem geändert. Dadurch hat es eine geradezu brennende Aktualität gewonnen. Die gedanklichen Grundlagen der modernen Wissenschaft befinden sich seit einiger Zeit in einer Phase des radikalen Umsturzes. Vor allem in der Physik, Astrophysik und Evolutionstheorie haben sich Entwicklungen ergeben, die ein grundlegendes Umdenken notwendig machen. Irreversibilität, Prozesshastigkeit, Komplexität, Selbstorganisation und Geschichtlichkeit sind neue Begriffe, die seit kurzem in der Physik und erst recht in der Biologie immer stärker in den Vordergrund treten und erkennen lassen, dass nicht ein Seinsgefüge, sondern Wandel und Werden dem gesamten Geschehen zugrunde liegen. Dies bedeutet zugleich, dass Zufall gleichberechtigt neben Notwendigkeit tritt, dass also nicht eine berechenbare Stabilität das Grundmuster der Welt darstellt, sondern ihre Fähigkeit zur Verwandlung. Wenn man von diesen Vorstellungen her dem Tao Te King näher tritt, gewinnt es plötzlich neue Konturen. Es wird mit einem Mal nicht nur leicht verständlich, sondern es zeigt sich in ihm ein geistiger Gehalt, der imstande ist, diese ungewohnten Aspekte, die nunmehr in unserer Wissenschaft aufgetaucht sind, innerhalb eines neuen Gesamtzusammenhanges verstehen zu lernen.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund, der die Sprüche des Laotse für uns plötzlich bedeutsam werden lässt, und zwar bezieht sich dies auf den moralischen Aspekt, der in ihnen enthalten ist. Auch dieser scheint für uns schwer zugänglich zu sein, da von Laotse das Nichtwollen und das Nichthandeln vertreten wird. Dies lässt sich auf den ersten Blick kaum mit unserer auf Aktivität ausgerichteten Zivilisation vereinbaren. Dabei trifft das Wort Moral auf das, was Laotse vermitteln will, eigentlich gar nicht zu, da eine Moral bereits eine Festlegung enthält, während es Laotse ausschließlich um eine innere Haltung geht. Das Nichthandeln bei Laotse bedeutet keinen Rückzug aus der Welt, etwa im Sinne einer stoizistischen Resignation, sondern ein Verlagern der Kräfte in ein inneres, geistiges Wachstum, wodurch Ehrgeiz, Machtstreben und Besitzgier als gegenstandslos vom Menschen abfallen. Es wird dadurch nicht nur eine innere Geborgenheit, sondern auch eine maximale Selbstverwirklichung ermöglicht, eben die Entwicklung zum Weisen, Berufenen, Vollendeten, oder wie man die Anhebung des Menschen auf eine höhere geistig-moralische Stufe auch immer bezeichnen will. 

Wenn Laotse Distanz von Tat und Handeln fordert, bedeutet dies eben keinen Rückzug aus der Welt, sondern im Gegenteil eine besondere Art der Einflussnahme, nämlich als geistige Beziehung, was eine höhere Intensität aufweist als bloßes Eingreifen durch die Tat. zugleich wird damit eine Gesellschaftskritik ausgesprochen, die an grundsätzlicher Schärfe keineswegs hinter dem zurücksteht, was heutzutage bei uns üblich ist. sie wird allerdings nicht von einem Standpunkt der blossen Freiheitsforderung des einzelnen ausgesprochen, sondern ergibt sich aus einem Denken heraus, das von der Gemeinschaft ausgeht und unermüdlich den Gedanken umkreist, wie diese sich sinnvoll und ausgewogen entfalten sollte.

Laotse weist den Menschen auf das hin, was er in sich selbst vorfindet, und fordert ihn dazu auf, durch seine eigene Bemühung daraus etwas zu machen. Der Mensch hat also einerseits in sich zu gehen und sich in seine Geschöpflichkeit zu versenken, aber andererseits durch diese Sammlung auf sein Inneres eine geistige Haltung zu verwirklichen, die ihn zum verantwortungsbewussten Mitschöpfer an der Welt werden lässt.

Bei dem Menschen, der an der Oberfläche stehenbleibt, mag diese Art Geistigkeit ein Gelächter auslösen, für jenen Menschen, der dadurch im Innersten angesprochen wird, ist sie ein Grund zum stetigen Lächeln.

 

 

„Das Lächeln des Tao“   von Lawrence Durrell  ( Suhrkamp )

ein rein literarischer Versuch sich dem Thema zu nähern

 

Der Taoismus ist eine so außergewöhnliche Marke östlicher Philosophie, dass man ihn zurecht eher eine ästhetische als eine institutionalisierte Sicht des Universums nennen kann. Ein Taoist ist der Joker im Spiel, der Poet am Herd. Sein Neigungswinkel rührt von einer simplen Behauptung her, nämlich, dass die Erde ein Paradies sei, und man daher gezwungen ist, dies so vollständig wie möglich wahrzunehmen und zu verwirklichen, bevor man gezwungen wird, sie zu verlassen. Der allgegenwärtige Imperativ dabei ist, dass im Verlauf dieses großen Festes unschuldigen Atems nichts, auch nicht der geringste Tropfen verschwendet werden darf.

Der Prozess der Bewusstwerdung tritt an einem Punkt ein, wo der Taoist in seinem Inneren einen neuen Zustand reiner Wachheit erfährt, - die Idee, dass die gesamte Ewigkeit 

durch ein einziges unüberlegtes Wort, durch eine einfache Unachtsamkeit, ja bereits durch ein zur Unzeit zitterndes Blatt in Frage gestellt werden kann!

Die Taoisten entschieden sich dafür, die große Frage nach dem höchsten Glück, nach der vollkommenen Seligkeit den höheren Rängen der religiösen Hierarchie zu überlassen und sich mehr mit der Welt als Ist abzugeben.

Die wahren Taoisten hatten kein unterscheidbares Merkmal aufzuweisen, außer, einen gewissen Blick im Auge, - einen taoistischen Blick! Einen Blick im inneren Auge des Geistes sozusagen! Unter diesen Worten warf mir Chang als Beispiel einen taoistischen Blick zu, und sofort sah ich, was er meinte. Es war ein großartiger kleiner Blick voller irritierender Schamlosigkeit, Ironie und voll Gelächter. Es war ein Blick sardonischer Komplizenschaft, - er zeugte von einem vergnügten und verschmitzten Bewusstsein darüber, wie kostbar das unausgesprochene ist. Es war wie das erste Band zwischen Menschen, die damit ihre Partnerschaft innerhalb des Gesamtprozesses zum Ausdruck bringen. Mir wurde klar, dass ich dabei in die Augen von Chuang Tse, meinem Lieblingsphilosophen - dem Groucho Marx der taoistischen Philosophie - blickte. Es war gewissermaßen das Auge des großen Paradoxons. Nichts lässt sich darüber aussagen, - es ist Taoismus, und sobald man versucht, eine explizite Aussage darüber zu machen, zerstört man es.

Ich erkannte, dass der Taoismus aus dem Lächeln des Kasyapa geboren war, - jenes nicht einmal besonders gewissenhaften Schülers, den Buddha in den höchsten Rang erhob, als er, der Meister - noch mitten im intensivsten Lehrdiskurs - zufällig den Blick dieses jungen Mannes erhaschte und überrascht in seinem Gesicht das Lächeln des Tao entdeckte! Da bedurfte es keiner weiteren Worte mehr, denn dieser eine lächelnde Blick machte ihm klar, dass Kasyapa die ganze Sache voll begriffen hatte. Buddha reichte ihm die Blume, die er in der Hand hielt, und befahl ihm, schleunigst den Unterricht zu verlassen. Da er die Inder so schrecklich langweilig und humorlos fand, machte sich Kasyapa also auf nach China, - das taoistische Lächeln war sein ganzes Gepäck. Und aus diesem Austausch zweier Blicke erwuchs die fernöstliche Buntheit der buddhistischen Welt, - und später dann die beachtliche Abkürzung des Zen-Sprungs, der den Dschungel der indischen Metaphysik vollkommen links liegen ließ und doch die wahre Essenz der Lehre umschloss.

Das Tao legt mir eine Haltung nahe ( alle Wahrheit ist ja relativ ), - einen Zustand totaler und allumfassender Bewusstheit aus vollem Herzen jenem Moment gegenüber, wo die Gewissheit wie ein Fisch an der Angel die Oberfläche durchbricht. Genau an diesem Punkt liegt der Geist in gleicher Schwingung mit der großen Metapher der Welt als Tao.

Dann erst ist die Wirklichkeit wirklich Wirklichkeit und frei von allem fesselnden, konzeptionellen Apparat des bewussten Denkens. Dann ist die Wirklichkeit das Blitzlichtmoment, wo der Geist sich in die Natur aller lebenden und unbelebten Schöpfung fügt. Und diese Poesie ist Tao.

 

 

 

 

Byung-Chul Han / "Abwesen" /Merve Verlag Berlin 2007

 

Das fernöstliche Denken ist ganz der Immanenz(1) zugewandt. Der dao verschmilzt ganz mit der Welt, mit dem Es-ist-so der Dinge, mit dem Hier und Jetzt. In der fernöstlichen Vorstellungswelt gibt es nichts außerhalb der Weltimmanenz. Wenn der dao sich der Festlegung oder Benennung entzieht, dann nicht deshalb, weil er zu hoch ist, sondern weil er fließt, weil er gleichsam mäandert(2). Er bezeichnet den ständigen Wandel der Dinge, die Prozesshaftigkeit der Welt. Der dao ist auch kein "Herr" der Dinge, kein "Subjekt". Er zieht sich ebenso wenig in ein Geheimnis zurück. Die Immanenz und die natürliche Evidenz(3) des Es-ist-so zeichnet ihn aus. So unterstreicht Laozi, dass seine Worte "sehr leicht zu verstehen" und "sehr leicht zu praktizieren" seien.

In seiner Anthropologie bemerkt Kant, dass das "Ausfüllen der Zeit durch planmäßig fortschreitende Beschäftigungen, die einen großen beabsichtigten Zweck zur Folge haben" das "einzig sichere Mittel" sei, "seines Lebens froh und dabei doch auch lebenssatt zu werden." Kant vergleicht das Leben mit einer Fahrt. Die Fülle der wahrgenommenen Gegenstände bei einer Fahrt bewirke in der Erinnerung den"Schluß auf einen großen zurückgelegten Raum, folglich auch auf eine längere dazu erforderlich gewesene Zeit." Das "Leere", d.h. die Abwesenheit der wahrnehmbaren Gegenstände dagegen erzeuge rückblickend das gefühl einer kürzeren Zeit. Soi verkürzt die Leere subjektiv das Leben. Um Lebenssatt zu werden, um sich am Leben zu erfreuen, dürfte kein Lebensabschnitt "leer" sein. Nur ein mit zielgerichteten Handlungen ausgefülltes Leben macht einen glücklich und lebenssatt. Sinn ist Ziel. Sein ist Tun.

Laozi und Zhuangzi sind dagegen davon überzeugt, dass ein ganz anderer Daseinsentwurf, eine ganz andere Welt möglich ist.

Jenem linearen verfassten Leben setzen sie ein richtungsloses Wandern entgegen. Ohne Sinn und Ziel, ohne Narration, ohne Transzendenz und ohne Gott. Die Sinnleere oder die Abwesenheit des Ziels ist kein Mangel, sondern ein Gewinn an Freiheit, ein Mehr des Weniger. Der Wegfall des Hin-Gehens macht erst das gehen möglich. Die Welt, dessen natürlichem Gang sich der Mensch zu fügen hat, ist nicht narrativ strukturiert. So ist sie auch resistent gegen die Sinnkrise, die immer eine narrative Krise ist. Sie erzählt weder 'große' noch 'kleine' Erzählungen. Sie ist kein Mythos, sondern Natur im besonderen Sinn.

Gerade deshalb ist sie groß. Jede Erzählung ist dagegen klein. Sie beruht nämlich auf einer Unterscheidung, die zugunsten des Einen das Andere ausschließt. Die Narration, die einen Sinn stiftet, verdankt sich einer Verkleinerung der Welt. Die Welt wird auf eine schmale narrative Bahn gedrängt und reduziert.

So lehren Laozi und Zhuangzi, statt an einer kleinen Erzählung sich mit der ganzen Welt zu verbinden, ja so groß sein wie die Welt, sich zu erheben zu einer weiten Welt.

 

1 Beschränkung auf das Innerweltliche. Das, was innerhalb einer Grenze bleibt.
2 sich schlangenförmig bewegen
3 offen zutage liegend
( Byung-Chul Han - "Abwesen" Merve Verlag Berlin 2007 )


In seiner Anthropologie bemerkt Kant, dass das "Ausfüllen der Zeit durch planmäßig fortschreitende Beschäftigungen, die einen großen beabsichtigten Zweck zur Folge haben" das "einzig sichere Mittel" sei, "seines Lebens froh und dabei doch auch lebenssatt zu werden." Kant vergleicht das Leben mit einer Fahrt. Die Fülle der wahrgenommenen Gegenstände bei einer Fahrt bewirke in der Erinnerung den"Schluß auf einen großen zurückgelegten Raum, folglich auch auf eine längere dazu erforderlich gewesene Zeit." Das "Leere", d.h. die Abwesenheit der wahrnehmbaren Gegenstände dagegen erzeuge rückblickend das gefühl einer kürzeren Zeit. Soi verkürzt die Leere subjektiv das Leben. Um Lebenssatt zu werden, um sich am Leben zu erfreuen, dürfte kein Lebensabschnitt "leer" sein. Nur ein mit zielgerichteten Handlungen ausgefülltes Leben macht einen glücklich und lebenssatt. Sinn ist Ziel. Sein ist Tun.

Laozi und Zhuangzi sind dagegen davon überzeugt, dass ein ganz anderer Daseinsentwurf, eine ganz andere Welt möglich ist.

Jenem linearen verfassten Leben setzen sie ein richtungsloses Wandern entgegen. Ohne Sinn und Ziel, ohne Narration, ohne Transzendenz und ohne Gott. Die Sinnleere oder die Abwesenheit des Ziels ist kein Mangel, sondern ein Gewinn an Freiheit, ein Mehr des Weniger. Der Wegfall des Hin-Gehens macht erst das gehen möglich. Die Welt, dessen natürlichem Gang sich der Mensch zu fügen hat, ist nicht narrativ strukturiert. So ist sie auch resistent gegen die Sinnkrise, die immer eine narrative Krise ist. Sie erzählt weder 'große' noch 'kleine' Erzählungen. Sie ist kein Mythos, sondern Natur im besonderen Sinn.

Gerade deshalb ist sie groß. Jede Erzählung ist dagegen klein. Sie beruht nämlich auf einer Unterscheidung, die zugunsten des Einen das Andere ausschließt. Die Narration, die einen Sinn stiftet, verdankt sich einer Verkleinerung der Welt. Die Welt wird auf eine schmale narrative Bahn gedrängt und reduziert.

So lehren Laozi und Zhuangzi, statt an einer kleinen Erzählung sich mit der ganzen Welt zu verbinden, ja so groß sein wie die Welt, sich zu erheben zu einer weiten Welt.

( Byung-Chul Han / Abwesen /Merve Verlag Berlin 2007 )